Obwohl sich die europäischen Länder zunehmend daran gewöhnt haben, sich auf die USA zu verlassen, scheint ein zunehmend introvertiertes Amerika dieses Mal keine Quelle der Stabilität zu sein. Während sich bereits Risse in den Beziehungen Europas zu seinen Nachbarn und sogar zu den EU-Ländern selbst zeigen, ist China bereit, die Kluft zwischen ihnen auszunutzen und sie noch weiter zu vertiefen. So wichtig es also ist, den Kampf gegen COVID-19 zu gewinnen, so wichtig ist es für das liberale Europa auch, den Kampf um sein Narrativ zu gewinnen.
COVID-19 hat nicht nur eine globale Gesundheitskrise ausgelöst, sondern beschleunigt auch ein geopolitisches Tauziehen um die Narrative und Politik der Pandemie. Die Balkanstaaten sind das letzte Schlachtfeld.
Einerseits treibt die Europäische Union die Agenda des Liberalismus und der europäischen Solidarität voran. Auf der anderen Seite macht der relativ neue Akteur in der Region – China – Fortschritte und erweitert seinen Einfluss, insbesondere in den neuen und weniger gefestigten Demokratien des Westbalkans, aber auch in den neuen EU-Mitgliedsländern.
Zielgruppe: die Herzen und Köpfe der Völker Europas.
Zweifellos kann diese Krise auf viele Arten definiert werden. Es wird sowohl global als auch national als dringendes Gesundheitsproblem angesehen. Sie wird auch als globale Wirtschaftskrise interpretiert, wobei viele Analysten Analogien zur Depression ziehen, die auf den Börsencrash von 1929 folgte. Die dritte wichtige Definition betrifft die Auswirkungen der Pandemie auf Demokratien und andere politische Systeme weltweit sowie auf die Beziehungen zwischen den Weltmächten, mit besonderem Schwerpunkt auf den Vereinigten Staaten, der EU und China. Durch diese Definition können widersprüchliche Narrative und ihre politischen Auswirkungen im Umgang mit der COVID-19-Krise unterschieden werden.
China versucht, den öffentlichen Gesundheitsnotstand als mehr als nur eine Pandemie zu definieren. stellt es als einen Test für Staaten dar. Ein Test der Effizienz und Kapazität im Umgang mit dem Virus. Dies ist ein Test, bei dem China und im weiteren Sinne auch autoritäre Regime und illiberale Demokratien bessere Ergebnisse erzielen als westliche liberale Demokratien. Die chinesischen Behörden haben eine Darstellung verbreitet, die die Demokratie dem autoritären Regierungssystem Chinas unterlegen darstellt. In chinesischen Lehrbüchern findet man die Behauptung, die liberale Mehrparteiendemokratie sei unzureichend, parteiisch und spaltend. Im Gegensatz dazu, so die Erzählung weiter, sei Chinas Einparteiensystem effizient und lasse keinen Raum für interne Konflikte und Populismus.
Dies ist keine neue Idee. Man kann sogar so weit gehen wie Platon und nach Argumenten suchen, die die Art und Weise diskreditieren, wie liberale Demokratien mit COVID-19 umgegangen sind. Peking bringt ein scheinbar überzeugendes Argument vor; Bei den Ländern mit den schwächsten Leistungen handelt es sich in der Regel um westliche liberale Demokratien wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Italien, Spanien und das Vereinigte Königreich. Gleichzeitig scheinen viele autoritäre Staaten sowie illiberale oder mangelhafte Demokratien wie China, Vietnam und einige Balkanstaaten bei der Bewältigung der Pandemie bemerkenswert erfolgreich gewesen zu sein. Angesichts ihrer Punktzahl im Global Health Security Index könnte man erwarten, dass die Balkanländer mit der Bewältigung dieses Notfalls größere Schwierigkeiten hätten. Allerdings deuten die vom Südosteuropa-Programm von ELIAMEP erhobenen Daten darauf hin, dass die Krise sowohl hinsichtlich der Fallzahlen als auch der Todesfälle deutlich effizienter bewältigt werden kann.
Diese beunruhigende These liefert überzeugende Argumente für den Autoritarismus. Dies sind Argumente, die die Volksrepublik China routinemäßig verwendet. Darüber hinaus hat China den Staaten der Balkanhalbinsel geholfen und sich als starke und glaubwürdige Alternative zur EU und den Vereinigten Staaten präsentiert.
Das anfängliche Zögern der EU, umfassende Hilfe anzubieten, könnte möglicherweise denjenigen Stimmen Auftrieb geben, die versuchen, die Demokratie in der Region zu untergraben.
Es gibt jedoch viele Gründe, warum dieses Argument der „autoritären Effizienz“ als Ablenkungsmanöver angesehen werden kann. Vielleicht geht es hier weniger um Demokratie als vielmehr um lahme Politik. Einige Länder reagierten nur langsam, weil sie befürchteten, die Bevölkerung könne bei ihren Wahlen abgestraft werden, da sie von der Bedrohung durch die Pandemie noch immer nicht überzeugt ist. Andere wiederum zeigten sich zuversichtlich, dass sie den rapiden Anstieg der Fallzahlen dank ihrer starken Volkswirtschaften und ausreichenden Kapazitäten im Gesundheitswesen bewältigen könnten. Einige Demokratien scheinen einen hohen Preis bezahlt zu haben, weil sie sich entschieden haben, ihre liberalen Werte nicht aufzugeben.
Es gibt jedoch auch erfolgreiche Beispiele wie Taiwan, Japan und Südkorea, die darauf schließen lassen, dass demokratische Systeme durch Reformen und Vorbereitung gegen derartige Risiken immun gemacht werden können.
Chinas Bemühungen, das Krisennarrativ zu ändern und mit einer „Maskendiplomatie“ Einfluss in Europa auszuüben, dienen dem Export seiner Ideologie: des Autoritarismus. Die neuen Demokratien des Balkans gelten seit Langem als ambivalent gegenüber der Demokratie. Der Index von Freedom House führt sie nur als teilweise frei auf, da die zahlreichen Folgen der Jugoslawienkriege das politische, öffentliche und allgemeine Leben ihrer Bürger noch immer beeinträchtigen. Und China bietet jedem neuen Autokraten auf dem Balkan attraktive Angebote.
Die EU verlangt für jeden Aspekt der Regierungsführung die Einhaltung schwer zu erfüllender Standards. Daher wäre es für Politiker einfacher, sich einem neuen Partner zuzuwenden, der Menschenrechtsverletzungen offensichtlich nicht kritisiert, keine Transparenz verlangt und – was vielleicht am wichtigsten ist – die Bereitschaft zeigt, massiv in seine Partner zu investieren.
In manchen Ländern gibt es keinen fruchtbaren Boden für chinesischen Einfluss jeglicher Art. Die spanische Regierung beispielsweise hat die chinesische „Hilfe“ abgelehnt. Im Gegenteil, es gibt andere Länder, die sich von der EU und dem Westen im Stich gelassen fühlen und offener erscheinen. Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Griechenland und sogar Italien haben aus China Ausrüstungs- und Hilfsspenden erhalten.
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić ging sogar so weit zu erklären, dass es die europäische Solidarität nicht gebe und dass China das einzige Land sei, das Serbien bei seiner Kritik an der unzureichenden finanziellen Unterstützung der EU helfen könne. In Italien verhallten die Hilferufe der anderen Mitgliedstaaten ungehört, während China einem Land Hilfe anbot, in dem einer aktuellen Umfrage zufolge mehr als 40 Prozent der Bevölkerung die EU verlassen wollen.
Über das letztendliche Ziel der chinesischen Politik kann nur spekuliert werden. Und oft wird von ihnen behauptet, sie würden „Soft Power“ ausüben, um sich weltweit eine Stellung zu sichern und im gegenwärtigen Kontext von den Mängeln ihres eigenen Krisenmanagements, insbesondere in der Region Wuhan, abzulenken. Eine solche Politik kann auch dem Versuch der Führung des Landes zugeschrieben werden, seinen Status als Weltmacht vor dem heimischen Publikum hervorzuheben.
Mit anderen Worten: Die „Maskendiplomatie“ und die Verunglimpfung der westlichen Demokratie müssen mit Chinas Zielen im In- und Ausland koordiniert werden.
Obwohl es sich hierbei um eine langfristige Strategie handelt, ist die wachsende Attraktivität Chinas – nicht nur als verlässlicher Wirtschaftspartner, sondern vor allem als alternatives Regierungsmodell, das dort Erfolg hat, wo die Demokratie versagt – besorgniserregend.
China scheint einen Riss zwischen den europäischen Staaten zu verursachen. Und was noch schlimmer ist: Es stellt die Ideale der Demokratie selbst in Frage. Der Zusammenhang mag zwar erfunden sein und die Beweislage mag zu anderen Schlussfolgerungen führen, doch Autoritarismus und China bleiben verlockend, insbesondere in Zeiten der Verzweiflung, wie sie kürzlich durch COVID-19 ausgelöst wurde.
So beunruhigend es auch sein mag, es scheint, als ob China den Kampf um die Kontrolle über die Pandemie-Erzählung gewinnt. Europa muss sich zusammenschließen, um das Virus zu bekämpfen.
Obwohl sich die europäischen Länder zunehmend daran gewöhnt haben, sich auf die USA zu verlassen, scheint ein zunehmend introvertiertes Amerika dieses Mal keine Quelle der Stabilität zu sein. Während sich bereits Risse in den Beziehungen Europas zu seinen Nachbarn und sogar zu den EU-Ländern selbst zeigen, ist China bereit, die Kluft zwischen ihnen auszunutzen und sie noch weiter zu vertiefen.
So notwendig es also ist, den Kampf gegen COVID-19 zu gewinnen, so wichtig ist es für das liberale Europa auch, den Kampf um sein Narrativ zu gewinnen.
(Iakovos Tsalikoglou ist wissenschaftlicher Mitarbeiter, während Panagiotis Paschaldis wissenschaftlicher Partner beim Südosteuropa-Programm von ELIAMEP ist. Dieses Programm hat alle Entwicklungen im Zusammenhang mit COVID-19 in allen Ländern der Balkanregion genau beobachtet. Das zugehörige Projekt „Balkans COVID-19: Mapping and Response Analysis“ (https://www.eliamep.gr/en/topics/southeast-europe-programme/) wurde im April 2020 gestartet und hat eine interaktive Karte erstellt, die täglich mit qualitativen und quantitativen Daten aktualisiert wird. Diese Übersicht ist Teil einer Reihe von Analysen, die das Spektrum der Studie erweitern sollen, um dieser dringenden Situation in der Region Rechnung zu tragen.)